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Oliver Reiser

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Muscarin und Atropin - Tödliche Gifte im Wechselspiel

von Franz Wiedmann

Wie kann ein Gift ein anderes aufheben, wo doch beide für den Körper schädlich oder sogar tödlich sein können? © Chemie-im-Alltag 2007

Schon Paracelsus wusste: Alles ist Gift, alles ist Arznei, es kommt nur auf die Dosierung an. Doch werden manche Gifte erst dann zur Arznei, wenn es gilt, die tödliche Wirkung eines anderen Gifts auszuschalten. Ein solches Paar sind Muscarin und Atropin.

Muscarin - das Gift des Fliegenpilzes

Manchem Pilzsammler mag vielleicht der Risspilz bekannt sein. Sicher kennt aber jeder Amanita Muscaria, den Fliegenpilz. Dessen roter Pilzhut mit den charakteristischen weißen Punkten ist zum einen als Symbol für einen Glückspilz, zum anderen aber auch stellvertretend für Giftpilze schlechthin bekannt. Bei Schamanen und Medizinmännern nutzte man diesen Pilz schon lange als Rauschmittel, der den Konsumenten in andere Sphären entführte. Bei der Suche nach dem hierfür verantwortlichen Wirkstoff stieß man auf Muscarin. Dieses ist jedoch nur in Spuren im Fliegenpilz enthalten. Deutlich mehr davon enthält der hoch giftige ziegelrote Risspilz (Inocybe erubesces oder auch Inocybe patouillardii).

Atropin - das Gift der Tollkirsche

Belladonna wurden in Italien früher schöne Frauen mit bezaubernden Augen genannt. Natürlich fand die Frau von Welt schon damals Mittel und Wege, ihrer Schönheit ein wenig nachzuhelfen. So tropften sich früher die feinen Damen den Saft der Tollkirsche (Atropa belladonna L.) in die Augen. Daraufhin weiteten sich die Pupillen und die Augen schienen größer. Auch hier suchte man den verantwortlichen Wirkstoff und fand 1833 das Alkaloid Hyoscyamin. Dieses geht bei der Trocknung der Pflanze in dessen Racemat Atropin, ein Gemisch aus zwei Enantiomeren, über. Atropin wird auch heute noch eingesetzt, um z.B. für eine Augen Operation die Pupille zu erweitern. Oral aufgenommen führen dagegen sowohl Hyoscyamin als auch Atropin zu lebensgefährlichen Vergiftungen.

Wie wirken Muscarin und Atropin? Und warum lässt sich eine Vergiftung mit dem einen durch Einnahme des anderen lindern?

Um die Wirkung der beiden Stoffe zu verstehen muss man zunächst einen weiteres Molekül kennen lernen: Acetylcholin dient vor allem an der neuromuskulären Endplatte als Botenstoff. Aber auch bei der Steuerung des Sympathikus bzw. des Parasympathikus, den Komponenten des vegetativen Nervensystems, spielt Acetylcholin eine wichtige Rolle: Es reguliert somit unsere Körperaktivität. Darüber hinaus wird auch der Speichel- und Schweißfluss über Acetylcholin reguliert und es ist außerdem einer der häufigsten Botenstoffe im Gehirn.

Muscarin ist dem Acetylcholin nun so ähnlich, dass es an dessen Stelle an den so genannten muskarinergen Acetylcholinrezeptoren, andocken und die Zelle erregen kann (Agonist). Es wird im Gegensatz zum Acetylcholin nicht über die Acetylcholinesterase abgebaut und verursacht somit eine Überreizung der muskarinergen Rezeptoren. Für den Konsumenten äußert sich dies in Tobsuchtsanfällen, Abfallen der Herzfrequenz, Atemlähmung, Pupillenverengung und vermehrtem Speichel- und Tränenfluss.

Atropin hingegen ist zwar auch dem Acetylcholin so ähnlich, dass es an die muskarinergen Acetylcholinrezeptoren andocken kann, aber es öffnet nicht die Ionenkanäle und führt so zu keiner Erregung der Zelle (Antagonist). Dennoch bleibt dieses Andocken nicht ohne Wirkung, denn an den Rezeptoren, an denen Atropin gebunden ist, kann weder Acetylcholin noch Muscarin binden. Atropin kann sogar die anderen beiden Stoffe vom Rezeptor verdrängen, wenn es in ausreichend großen Mengen vorhanden ist. Dies erklärt, warum Atropin alleine eingenommen zur Erhöhung der Herzfrequenz, Erweiterung der Pupillen und Bronchien, sowie zum Austrocknen der Schleimhäute und Verringerung des Schweißflusses führt, denn ist Atropin am Acetylcholinrezeptor gebunden, wird dessen Wirkung gehemmt. Somit erklärt sich auch warum Atropin als Antidot, also als Gegengift zu Muscarin wirkt. Wird das Muscarin durch das Atropin vom muskarinergen Rezeptor verdrängt, kann dieses dort nicht mehr wirken, und die Zelle wird nicht mehr übererregt.

Ähnlich wie Muscarin wirken auch manche Opiate oder Nervengase wie etwa das als Kampfstoff eingesetzte Sarin. Deshalb werden beim Militär Notfallampullen mit 20 mg Atropinsulfat für die Opfer von Giftgasangriffen mitgeführt.

Bildquellen:
Risspilz und Fliegenpilz: mit freundlicher Genehmigung von Georg Müller
Tollkirsche: GNU Free Documentation Licence von Kurt Stüber